Therapeutisches Klettern macht Spaß und ist effektiv: Auch Senioren profitieren vom Umgang mit Grenzen, Sicherheit und Risiko
Wer Krankengymnastik verschrieben bekommt, weiß: Bewegung hilft. Umso besser, wenn es auch noch Spaß macht. In immer mehr deutschen Physio- oder Ergotherapiepraxen hält deswegen eine neue Therapieform Einzug. Die Patienten dürfen klettern. Die Erfolge sprechen für sich und die Krankenkassen übernehmen die Kosten.
Lutz Boetel sieht aus wie einer, der gemeinhin wohl mit der für viele ältere Menschen wenig schmeichelhaften Phrase rüstiger Rentner betitelt würde. Unaufgeregt ist er, sehr freundlich, und dass er in jungen Jahren gerne in den Alpen rumgestiegen ist, glaubt man ihm aufs Wort. Jetzt, mit Mitte 60, lässt er es ruhiger angehen. Sein größtes Hobby sind Pilgerfahrten. Der Jakobsweg hat es ihm angetan, und schon bald wollte er eigentlich wieder auf Wanderschaft gehen. Vergangenen Winter aber kam Lutz Boetel etwas dazwischen, genauer gesagt, eine Eisplatte. Sein Oberschenkelhalsknochen hielt dem Sturz nicht stand, ausgeträumt der Pilgertraum. Kurz darauf ereilt ihn das gleiche Schicksal nochmal, diesmal beim Einkaufen. Er stürzt und verletzt sich an derselben Stelle wieder. “Mit Gehen war dann erst mal nichts mehr“, erzählt er.
Was Lutz Boetel widerfahren ist, klingt wie eine klassische Osteoporose-Geschichte. Eine Knochendichtemessung hat er allerdings noch nicht machen lassen. Das Wichtigste für ihn war zunächst, seine alte Mobilität wieder zu erlangen. Und hier kreuzt sein Weg den von Normen Schack. Der Ergotherapeut betreibt zusammmen mit einem Kollegen eine große Praxis in Hannover, insgesamt arbeiten dort 15 Leute im Team. Das alleine ist schon etwas Besonderes, doch vor allem, wie dort therapiert wird, hat Pioniercharakter.
Wenn Lutz Boetel in die Praxis kommt, zieht er erst einmal Sportklamotten an. In einem kleinen Turnraum steht eine sogenannte Boulder-Wand, eine kleine Spezial-Kletterwand mit verstellbarer Neigung. Doch erst einmal Aufwärmen. Schack wirft Boetel einen Ball zu, der muss in die Knie gehen, ihn über dem Kopf zurückwerfen, alles mehrere Male, bis es heißt, „marschieren bitte und die Knie hoch bis zum Rumpf.“ Ein bisschen warm ist es Boetel inzwischen geworden, jetzt darf er an die drei Meter hohe Boulder-Wand, zieht sich hoch, mal mit geraden Beinen, mal seitlich, mal auf Zehenspitzen. Die ganze Zeit hat Schack ihn genau im Blick und bei Bedarf auch im Griff. Was Boetel hier macht, sieht unspektakulär aus, doch das risikolose Klettern knapp über dem Boden hat es in sich.
„Besonders für die Behandlung von Bewegungsstörungen, bei Problemen mit dem Rücken oder dem Gelenk- und Muskelkorsett sowie bei neurologischen Erkrankungen sind die Erfolge verblüffend. Die Tiefenmuskulatur wird gestärkt, die Koordination geschult, und selbstverständlich steigern die Erfolge das Selbstbewusstsein enorm“, sagt Schack. Von der Wirksamkeit der Therapie ist man auch bei den Krankenkassen überzeugt. Sie übernehmen im Rahmen einer Ergotherapie oder Krankengymnastik-Verordnung die Kosten, vorausgesetzt die Therapie findet in einer Praxis mit Kassenzulassung statt. Immer mehr Kollegen von Schack schaffen sich deswegen kleinere oder größere Wände an. Das Angebot in seiner Praxis ist allerdings einzigartig. Neben einer 60 Quadratmeter großen Boulder-Wand gibt es in Hannover eine 15 Meter hohe Kletterwand, montiert an einem frei stehenden Fahrstuhl. Vier Jahre hat es gedauert, bis sie endlich benutzt werden durfte: Vermieter, Statiker, TÜV, alle mussten ihr Okay geben.
Sicherheit zuerst
Lutz Boetel hat mittlerweile Kletterschuhe angezogen, beim Anlegen des Hüftgurtes überprüft Normen Schack jede Schlaufe penibel. Sicherheit steht an erster Stelle, denn nur, wenn die Patienten dem Material und ihrem Therapeuten hundertprozentig vertrauen, kann die Klettertherapie optimale Effekte erzielen. Schack weiß das auch aus persönlicher Erfahrung. Nach einem Burnout-Syndrom, Panikattacken und Selbstzweifeln hat er sich vor acht Jahren freigeklettert, als er zusammen mit seinem Bruder ein Wochenendseminar besuchte. „Ich wollte erst gar nicht, war müde, ängstlich, ohne Motivation, erinnert er sich, und man kann sich kaum vorstellen, dass dieser dynamische, sportliche, junge Mann einmal solch ein Tief hatte. Das mag jetzt komisch klingen, aber als ich die Griffe zum ersten Mal angefasst habe, hörte die Gedankenspirale in meinem Kopf sofort auf und ich war plötzlich ganz bei mir“, sagt er.“Es gab nur mich und die Wand.“ So ist es geblieben, Schack wurde zum passionierten Kletterer und ließ sich schließlich vom Deutschen Alpen Verein (DAV) zum Klettertrainer ausbilden. Als er den Fahrstuhl zum ersten Mal sah, wusste er: „Das ist es“. Er machte sich selbstständig, die Praxis wuchs und wuchs. Immer mehr Patienten interessierten sich neben den konventionellen Therapiemethoden für Klettern. Ob jung, ob alt, mit Handicap oder nach einem Schlaganfall: Jeder kann und darf klettern, sofern Herz und Kreislauf in Ordnung sind.
Kein Leistungsdruck
Besonders wichtig ist Schack, dass die Therapie in sogenannten 1:1-Situationen stattfindet. Das bedeutet, vor der Wand stehen nur Patient und Trainer. Keine großen Kletterhallen, keine Zuschauer, kein Leistungsdruck und keine Scham. „Ich hab anfangs auch gezögert und hatte Angst“, gibt Boetel zu. „Doch das ist vergessen. Es ist ein super Gefühl, ich würde jedem empfehlen, es zu versuchen“, rührt er die Werbetrommel. Bevor er sich endgültig an den Aufstieg macht, überlegt er, welche Route heute wohl die beste sein könnte. „Klettern ist Training für Körper und Geist“, sagt Schack, der die Routen jedes Mal ganz individuell für seine Patienten steckt. Noch einmal überprüft er die Sicherungen. Sollte Boetel abstürzen, hält einmal Schack selbst ihn mit einem Gurt, für den Fall aller Fälle gibt es aber noch eine zweite technische Sicherung zusätzlich. Konzentriert greift Boetel nun nach dem ersten Griff, zieht sich hoch, stemmt sich weg, sucht Halt, zieht sich hoch. „Am besten den linken Fuß auf gelb! Und den Arm weiter rauf, richtig strecken“, ruft Schack. Stück für Stück geht es nach oben. Boetel muss sich jetzt richtig anstrengen, doch mit ein paar kleinen Pausen hat er sein Ziel schließlich erreicht: den vierten Karabinerhaken in der Mitte der riesigen Wand, acht Meter über dem Boden. Eine Spitzen-Leistung. Wieder auf dem Boden strahlt Boetel über das ganze Gesicht. „War gut“, sagt er und man ahnt: Die nächste Pilgerreise kommt bestimmt. (Ines Geier)